Floskel des Monats

soziale Brennpunkte

16.06.2021

„Berlin will Impftempo in sozialen Brennpunkten erhöhen“, „Essen dreht Impf-Erklärvideos für soziale Brennpunkte“ oder auch „Wohnhochhäuser sind meist Luxusenklaven oder soziale Brennpunkte“, hieß es vor ein paar Wochen in Nachrichtenmedien. Wer auch immer diese Formulierung einst komponiert hat: Chapeau für dieses irreführende Kauderwelsch! Laut DWDS-Zeitungskorpus erlebten die „sozialen Brennpunkte“ in den 1990er Jahren großen Aufwind. Erste Erwähnungen gab es aber schon in den Nachkriegsjahren.

Schindluder wird mit dem Wort „sozial“ schon länger betrieben, und es verbreitet sich im Journalismus wie die Pest: Erinnern wir uns nur an den von der CSU geprägten Begriff Sozialtourismus, der 2013 völlig zu Recht zum Unwort des Jahres erklärt worden ist. Er suggeriert, dass Flüchtlinge vor allem wegen staatlicher Transferleistungen nach Deutschland kommen. Nach steter Wiederholung in den Medien übernahm die AfD den Begriff dankend und nutzt ihn bis heute, um abzuwerten und zu emotionalisieren.

Oder der Sozialromantiker, der als Kampfbegriff benutzt wird, um politische Gegner:innen zu diskreditieren, indem ein bestehendes Grundrecht mit blühenden Fantasien gleichgesetzt wird, obwohl unser Grundgesetz klar formuliert: „Deutschland ist ein (...) sozialer Bundesstaat.“ Oder sozial schwach, obwohl wirtschaftlich schwach oder schlicht arm gemeint ist, während der sozial schwache und einkommensstarke Friedrich Merz im Focus schreibt: „Der deutsche Steuerzahler muss blechen: Lieber Sozialstaat, wir müssen reden!“

Der Duden hat sich bei der Formulierung soziale Brennpunkte für folgende Bedeutung entschieden: „Wohngebiet oder Stadtteil, in dem zu sozialer Benachteiligung führende Faktoren wie Armut, Arbeitslosigkeit, Integrationsschwäche und Ähnliches überdurchschnittlich oft auftreten.“ Genau das ist der Punkt! Unangenehm viele Begriffe, die das Wort „sozial“ enthalten, werden eingesetzt, um Armut und ihre Folgen sprachlich zu verschleiern. Sie sind verfälschend, zynisch – und oft auch eine gezielte Verharmlosung von Armut. Denn die soziale Kompetenz ist nicht auf dem Kontoauszug ablesbar. 

Wie sich Floskeln und Phrasen im Journalismus ausbreiten, machen Sebastian Pertsch und Udo Stiehl mit der sprach- und medienkritischen Floskelwolke sichtbar. Hier stellen sie Begriffe oder Formulierungen vor, mit denen KollegInnen besonders häufig danebenliegen.

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