Floskel des Monats
musste sterben
Mussten Sie in der Sommer-Ausgabe des journalists noch lesen, dass Sie angeblich ständig etwas tun oder wissen müssen, so müssen Sie heute doch froh sein, dass Sie nicht sterben mussten. Ein bekannter Song der Musikband Knorkator lautet „Wir werden alle sterben“. Damit hat sie recht. Es trifft aber genauso zu, wollte man den Titel mit müssen verändern: Wir müssen alle sterben. Zwangsläufig ist das menschliche Leben endlich. Mit gesunder Ernährung und Sport können Sie den Zeitpunkt des Todes möglicherweise etwas hinauszögern.
Doch selbst mit lebensverlängernden oder -erhaltenden Maßnahmen verabschiedet sich der Mensch irgendwann. Anders verhält es sich, wenn Menschen vorzeitig, unnatürlich und unfreiwillig von uns gehen; zum Beispiel durch einen Mord. Auch wenn dies oft behauptet wird: Sie mussten nicht sterben; sie sollten oder wollten – wenn überhaupt – sterben. Ein "Müssen" kann bei dieser Phrase pietätlos wirken, denn das Wort gibt vor, dass die Tötung alternativlos, ja, in einem bestimmten Kontext fast schon folgerichtig sei. Stirbt jemand medial Präsentes oder ist die sogenannte Bluttat besonders aufsehenerregend, so keucht der deutsche Boulevard besonders laut:
"Warum musste die Beauty-Bloggerin sterben?", "Warum musste Ayleen sterben?", "Warum musste die 14-Jährige aus Gottenheim sterben?" – allesamt Beispiele aus diesem Sommer. Erschreckenderweise stellt man beim Blättern in den Nachrichtenarchiven auch noch fest, dass sich nicht nur der Boulevard der perfiden Wortwahl bedient. „Warum musste Johanna sterben?“ – Nein, sie musste überhaupt nicht in den Fluten im vergangenen Jahr sterben. Bei der absehbaren und weitgehend rechtzeitig angekündigten Naturkatastrophe in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz hätten im Gegenteil viele Menschen überleben können, vielleicht auch Johanna.
Die Frage "Warum musste […] sterben?" ist dreifach zynisch und sollte im Journalismus getilgt werden: 1. Wie erwähnt muss niemand aus unnatürlichen Gründen sterben. Den suggerierten kausalen Zusammenhang gibt es nicht. 2. Die Frage ist suggestiv und deshalb manipulativ. Und 3. wird bei einer Tötung oft das Wording oder die Intention des Täters übernommen und die eigentlich betroffene Person wird ausgeblendet.
Wie sich Floskeln und Phrasen im Journalismus ausbreiten, machen Sebastian Pertsch und Udo Stiehl mit der sprach- und medienkritischen Floskelwolke sichtbar. Hier stellen sie Begriffe oder Formulierungen vor, mit denen KollegInnen besonders häufig danebenliegen.