Floskel des Monats
Das müssen Sie wissen ...
Das müssen Sie über die "Floskel des Monats" wissen: gar nichts. Sie "müssen" gar nichts über die Kolumne wissen. Überhaupt nichts! Sie können den Text einfach so lesen. Denn entgegen irrigen Annahmen, was man alles so tun müssen soll, muss man nämlich weitaus weniger, streng genommen fast gar nichts, außer zu sterben, heißt es doch so schön. Gut, machen wir uns ehrlich: Man muss atmen, etwas essen, trinken und schlafen, weil es existenziell ist. Aber dann hört es so langsam auch auf mit dem Müssen.
Anders verhält es sich im Journalismus: Da wird zu oft in Schlagzeilen und Teasern nicht nur mit unsinnigen Fragen getriggert, anstatt besser Antworten zu liefern, sondern den Leser*innen auch noch aufgezwungen, ständig etwas tun oder – noch anstrengender – etwas wissen zu müssen. Und das, obwohl die Konsument*innen gar nicht wussten, dass sie neben dem Kauf des Artikels und – zumindest online – dem Anklicken unsäglicher Cookie-Nervtöterhinweise weitere Verpflichtungen eingegangen sind. Hätten sie dieses gewollt, was sie wollen? Schopenhauer hätte verneinen müssen.
Muss das denn alles sein? Nein, auch wenn täglich Gegenteiliges suggeriert wird: Da liest man innerhalb nur weniger Tage Überschriften wie "Lange Nacht der Wissenschaften – Was Sie wissen müssen", "Flugchaos im Sommer? Was Reisende wissen müssen", "Was Mieter jetzt in der Gas-Krise wissen müssen", "Was Sie über Wärmepumpen wissen müssen" oder "Sommer, Sonne, Eiscreme: Das müssen Sie über die Leckerei wissen". Nicht aufdringlich genug? Dann nutzen Sie wegen der geilen Eyecatcher die Großschreibung: "Was sie JETZT über die Corona-Lage wissen müssen". Also jetzt sofort, aber dalli! Ebenso auf nachrichtlich relevante, noch bevorstehende Ereignisse mit "Was Sie heute wissen müssen" hinzuweisen, wirkt etwas marktschreierisch.
Sprachlich ist es ohnehin nicht hübsch, doch wenn Sie sich schon dieser Stile bedienen müssen, dann sollten Sie das besser mit dem höflicheren "sollten". Ein Sharepic einer TV-Wissenschaftssendung wurde im Juni beispielsweise mit "Was du über Verschwörungstheorien wissen solltest" eingeleitet. Natürlich ist es immer eine Frage der Dringlichkeit und der Klientel, die angesprochen wird, weshalb schneller zum Müssen statt Soll(t)en gegriffen wird. Diese Inflation ist oft unnötig – und kann eher verschrecken als anlocken. Eine Folge könnte sein, dass die Qualität und das Ansehen des Mediums sinken.
Wir haben im Deutschen so viele tolle Möglichkeiten, unsere Sprache zu dirigieren – und wir im Journalismus täten gut daran, mit diesem wichtigen Taktstock mal ein paar Sekunden mehr in sinnvolles Legato zu investieren. Disclaimer: Nein, Sie müssen nicht.
Wie sich Floskeln und Phrasen im Journalismus ausbreiten, machen Sebastian Pertsch und Udo Stiehl mit der sprach- und medienkritischen Floskelwolke sichtbar. Hier stellen sie Begriffe oder Formulierungen vor, mit denen KollegInnen besonders häufig danebenliegen.