Carsten Stormer

Warum ich nicht in die Ukraine gegangen bin

20.06.2022

Ich berichte seit zwanzig Jahren aus Kriegen und habe beschlossen, als freier Journalist nicht ohne Auftrag in die Ukraine zu reisen. Eine richtige Entscheidung, die sich falsch anfühlt. Text: Carsten Stormer

Carsten Stormer: "Es ist eines dieser Ereignisse, bei denen man sofort weiß: Die Welt ist ab jetzt eine andere. Vergleichbar mit dem Mauerfall, dem 11. September." (Foto: privat)

Seit Februar verfolge ich den russischen Angriff auf die Ukraine im Fernsehen und lasse mir gratulieren, dass ich endlich vernünftig geworden sei. Alle loben mich, dass ich meine Familie, meinen Sohn über meinen Beruf stelle und die Gefühle meiner Mutter schone: Sie floh 1945 als neunjähriges Mädchen vor der Roten Armee aus dem ehemaligen Ostpreußen. Eine Bombe traf ihren Flüchtlingstreck, sie wurde aus einem brennenden Lastwagen gezogen. Drei verkrüppelte Zehen erinnern daran. Russland verbindet sie bis heute mit Flucht, Angst und Vertreibung. Damals war Deutschland der Aggressor, heute ist es Russland. Meine Mutter hat sowjetische Bomben überlebt. Ich möchte ihr ersparen, sich am Ende ihres Lebens ängstigen zu müssen, dass eine russische Rakete ihren Sohn tötet. Zu viele Kollegen sind bereits in der Ukraine gestorben.

Ich erzähle meinen Lieben nicht, wie schwer es mir fällt, zu Hause zu bleiben. Dass ich mir meine Entscheidung jeden Tag aufs Neue bestätigen muss. Nach dem Aufwachen schalte ich zuerst die Nachrichten ein, schaue und lese Schreckensmeldungen aus der Ukraine über russische Kriegsverbrechen, zerstörte Städte, einen Präsidenten, der in der Krise zu einer Figur der Zeitgeschichte reift, wie der russische Angriff die Ukraine zu einer Nation eint. Es ist ein starkes Narrativ. Weltgeschichte. Es ist eines dieser Ereignisse, bei denen man sofort weiß: Die Welt ist ab jetzt eine andere. Vergleichbar mit dem Mauerfall, dem 11. September. Seit 20 Jahren berichte ich aus Kriegen und Krisen. Mein erster Impuls ist: schusssichere Weste und Helm aus dem Schrank holen und den nächsten Flug nach Kiew buchen. Früher hatte ich das so gemacht. Ohne Auftrag losziehen, vor Ort Geschichten suchen und verkaufen. Jetzt entscheide ich mich dagegen. 

"Meine Mutter hat sowjetische Bomben überlebt. Ich möchte ihr ersparen, sich am Ende ihres Lebens ängstigen zu müssen, dass eine russische Rakete ihren Sohn tötet."

Gründe gibt es genügend: Ich lebe als Korrespondent in Manila, 8.788 Kilometer von Kiew entfernt. Ich war noch nie in der Ukraine. Habe keine Kontakte. Mein Wissen ist nur angelesen. Ich habe weder über die Maidan-Proteste im Winter 2013/14 berichtet noch über die Annexion der Krim im Jahr 2014, den darauffolgenden Stellvertreterkrieg im Donbass oder den Abschuss eines Passagierflugzeugs durch ukrainische Separatisten. Warum also jetzt? 

Es ist die richtige Entscheidung. Aber warum fühlt sie sich so verdammt falsch an?

Krieg ist kein großes Abenteuer, er ist ein beschissener Gefährte. Ich habe viele Jahre und Hilfe benötigt, um Erlebnisse in Syrien und im Irak zu verarbeiten; die Angst, die Unmittelbarkeit des Todes, des eigenen und desjenigen anderer, das Leid der Menschen, das man nie wieder vergisst. Erinnerungen daran sind ständige Begleiter. Andererseits habe ich das Bedürfnis, an etwas Bedeutendem teilzuhaben, den Beruf zur Berufung zu überhöhen. Kaum etwas vermag das in seiner Intensität so sehr wie Krieg. Ein Gefühl, das süchtig machen kann.

Dabei kann ich nicht über Arbeitsmangel klagen, ich arbeite an Geschichten und Themen, die mir wichtig sind; ein Porträt für Geo, eine Reportage für den Spiegel, eine Fernsehreportage für das ZDF über die politische Situation in den Philippinen, an der ich sechs Jahre lang recherchiert habe. Wichtige Themen, die mich erfüllen. Zumindest bis Russland die Ukraine überfiel.

Es ist irrational, aber ich fühle mich schuldig, nicht vor Ort zu sein, in Butscha, Kiew, Charkiw, Odessa. Einige Ortsnamen, die ich vor dem 24. Februar nicht kannte. Als ob ich gegen einen Kodex verstoßen, meiner journalistischen Pflicht nicht nachkommen würde. Ich suche Rat bei meinem Freund Peter Bouckaert. Er hat lange für die Menschrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) in Kriegen Verbrechen dokumentiert und schließlich seinen Job an den Nagel gehängt, um in Madagaskar Kindern zu helfen. Er wollte mehr vom Leben, als es ständig mit Tod, Gewalt und Angst zu füllen. Von ihm will ich wissen, ob es ihm ebenso schwerfalle wie mir, nicht in die Ukraine zu sein. Peter Bouckaert hat mich in Syrien betreut, ich habe mit ihm in den Philippinen gearbeitet, er gab mir in Notsituationen moralische Unterstützung. 

Er kenne dieses sonderbare Gefühl, schrieb er zurück, auch für ihn sei es hart, nicht dabei zu sein. "Aber dann denke ich über die tödliche Gefahr nach und bin froh, dass ich einen anderen Weg im Leben gewählt habe." Er hoffe, dass ich seinem Beispiel folge. Ich solle meine Motivation hinterfragen, reflektieren. "Ich weiß, dass du dich schuldig fühlst, weil du nicht vor Ort bist." Er könne das verstehen. Aber dieser Krieg sei auch wie eine Kerzenflamme, die Motten anzieht. "Früher oder später verlässt einen das Glück. Viele weitere Journalisten werden in diesem sehr gefährlichen Krieg sterben, und man fragt sich, wofür."

Wofür? Diese Frage stelle ich mir oft. Ist es wert, sein Leben für eine Geschichte zu riskieren? Ich denke: Ja. Kein Foto, keine Reportage, keine Dokumentation wird einen Krieg beenden. Aber Journalisten sind unabhängige Zeugen, Chronisten, die dokumentieren. Journalisten liefern Puzzlestücke, bis sie ein Gesamtbild ergeben. Und sie stellen staatlicher Propaganda, Fake News und Desinformation in den sozialen Medien Fakten entgegen. Die Alternative wäre, dass niemand hinsieht. Das ist inakzeptabel.

"Seit 20 Jahren berichte ich aus Kriegen und Krisen. Mein erster Impuls ist: schusssichere Weste und Helm aus dem Schrank holen und den nächsten Flug buchen."

Seit ich Vater geworden bin, hechele ich nicht mehr jedem Konflikt hinterher, wäge mehr Risiken ab. Ich berichte weiterhin aus Krisen, über Menschen in schwierigen Situationen. Aber wenn ich aus einem Krieg berichte, müssen die Rahmenbedingungen stimmen. Nur Tote, zerstörte Häuser, ausgebrannte Panzerwracks zu zeigen, ist eine Bestandsaufnahme des Schreckens. Das reicht nicht. Mein Mentor und Freund Uli Reinhardt hat mir mal gesagt, dass Journalisten in Krisengebieten eine besondere Verantwortung den Menschen gegenüber tragen, über die sie berichten. Sie teilen ihre traumatischsten Erlebnisse mit ihnen, gehen wie sie Risiken ein. Das Mindeste was man diesen Leuten schulde, sei eine Veröffentlichung, damit andere Menschen davon erfahren.

Natürlich, als Journalist fällt es mir schwer, das Geschehen aus der Ferne zu beobachten. Aber in der Ukraine würde ich bestenfalls nur an der Oberfläche kratzen. Für eine Berichterstattung, die Tiefe und Nähe erzeugt, Wissen und Kontext vermittelt, eine Entwicklung aufzeigt, fehlen mir schlicht die Mittel. Große internationale Medien stellen ihren Korrespondenten Sicherheitsberater zur Seite, meist Ex-Militärs, die die Gefahrenlage einschätzen, die Risiken abwägen können und zur Not eine Recherche abbrechen. Man muss einen Fahrer mit Ortskenntnis anstellen, einen Übersetzer bezahlen. Lokale Produzenten, die helfen, Geschichten zu finden, Gegend und Menschen kennen, die Landessprache beherrschen, Benzin, Lebensmittel und eine Übernachtungsmöglichkeit klarmachen. Das gesamte Team muss mit schusssicheren Westen und Helmen ausgestattet sein. Das alles kostet sehr viel Geld. 

In Chatgruppen sehe ich derzeit häufig Beiträge von jungen freien Kollegen, die in die Ukraine reisen wollen. Sie suchen nach Mitfahrgelegenheiten, einem günstigen Schlafplatz und fragen, ob ihnen jemand eine schusssichere Weste leihen könne. Es geht vor allem darum, Geld zu sparen. Und ich will ihnen zurufen: Macht das nicht! Und denke dabei an die klugen Kollegenratschläge, die ich mir am Anfang meiner beruflichen Laufbahn zwar dankbar angehört, aber trotzdem ignoriert habe. 

Fünfte Kriegswoche. In den sozialen Medien kursiert ein Foto, das in der Kleinstadt Butscha aufgenommen wurde, in der russische Soldaten Kriegsverbrechen begangen haben sollen. Das Bild zeigt einen Straßenzug in Butscha. Ausgebrannte russische Panzer, verkohlte Gartenzäune, zerstörte Häuser. Dazwischen wimmeln Dutzende Journalisten auf der Suche nach einem Motiv. Sie stehen auf Panzerwracks, in Vorgärten. Ein paar Kollegen knien am Boden und fotografieren eine Katze. Für mich symbolisiert dieses Bild alles, was in den Medien falsch läuft; dieser Fallschirmjournalismus, der ständig und immer schneller Schlagzeilen produziert. Dieses offensichtlich mangelnde Interesse an Zusammenhängen und Hintergrundinformationen, die fehlende Einordnung. Eine Berichterstattung, die Krieg inszeniert. Es sind Bilder ohne Aussagen. Klischees, die eine Vorstellung von Krieg reproduzieren, aber mit der Realität wenig zu tun haben. 

Die Verbrechen, die in Butscha begangen wurden, sind vergleichbar mit den Massakern des burmesischen Militärs an den Rohingya, des Islamischen Staats an den Jesiden oder dem Giftgasangriff des syrischen Regimes auf Zivilisten. Bei all diesen Ereignissen konnten Journalisten zur Aufklärung und Rekonstruktion beitragen. Mit Teams, die Augenzeugenberichte sammeln und Interviews führen, Redaktionen, die Open Source Intelligence (OSINT) auswerten, frei zugängliche Informationen im Internet – Satellitenbilder, Handyfotos, Geodaten, Kommunikation in Chatgruppen – und diese zu einer Beweiskette zusammenfügen. Ein gemeinschaftlicher Kraftakt, den freie Journalisten kaum allein stemmen könnten. Die Bilder und Berichte aus dem philippinischen Drogenkrieg haben zu Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofs wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit geführt. Es ist diese Art der Berichterstattung, die den Unterschied ausmacht. 

Sechste Kriegswoche. Bei CNN sehe ich einen Bericht von Clarissa Ward. Sie und ihr Team sitzen in einem Wohnblock in Charkiw fest, das von russischen Raketen getroffen wird. Scheiben gehen zu Bruch, Putz fällt durchs Treppenhaus, ein ukrainischer Sanitäter muss eine verletzte Journalistin versorgen, die sich an Glasscherben geschnitten hat. Fünf Minuten Aktion, Heroismus, Adrenalin, Anspannung. Puh! 

Und ich frage mich: Wofür?

Carsten Stormer ist einer der erfahrensten Kriegsreporter in Deutschland. Seit Jahren berichtet er über Kriege und Krisen, er war in Syrien, Iran, Somalia, Afghanistan. Dieser Text erschien zuerst in der Juni-Ausgabe des journalists.

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